Offenheit aus Genauigkeit, Genauigkeit aus Liebe und Liebe aus Offenheit

Von Martin A. Hainz

Einführung zur Präsentation von Konstantin Kaisers 2025 erschienenem Gedichtband
Ausgedehnte Gegenwart
(12. Dezember, Wien)

Gestatten Sie mir zunächst einen Umweg, indem ich erkläre: Ich schätze diesen Dichter schon aus Zeiten, als ich ihn als Literaturwissenschaftler und Historiker kennenlernte. Ich las nämlich vor genau 25 Jahren das Lexikon der österreichischen Exilliteratur (Wien: Deuticke 2000). Dabei handelt es sich um ein grandioses Werk, das in rund 700 Artikeln bekanntere und unbekanntere Autoren aus Österreich und seinen einstmaligen Kronländern vorstellt. Und ich schätzte damals an diesem Werk, was ich kaum anders auch an den Gedichten schätze: Die Aufmerksamkeit für Details, wo sich nämlich die Realität nicht realistisch zeigt, nicht dem fügt, was man eh schon wisse, algorithmisch-stochastisch wie die KI, die alles so missversteht, wie es ihr voreiliges Konzept nahelegt.

Gegen dieses Netz stellt Konstantin Kaiser ein anderes: „Gegenwart ist ein riesiges Netz“, heißt es in seinem neuen Gedichtband. Das ist sie aber nur, indem das, was sie (oder er oder das lyrische Ich) verbindet, nicht Wiederholung ist, weder dessen, was es verbindet, noch des Verbundenen mit sich selbst. Klischees sind solche Selbstgleichheiten, das Antidot ist diese Lyrik. Es verbindet neu, was passen könnte – oder sollte.

Diese Details sind dann der Sand im Getriebe, das Unbequeme, das man gerne jenen vorwirft, die sich partout nicht auf ideologischen Unsinn einlassen. Während andere von der Aufklärung so reden, als gäbe es sie, während andere gerade darum die Welt als unverbindlichen Unsinn schildern, ist hier die Einsicht Kants lebendig, dass wir unaufgeklärt sein mögen, der Prozess noch im Gange ist – und kein Messias aus Einsen und Nullen uns demnächst erlösen dürfte.

 „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“

Diese Haltung unterscheidet Konstantin Kaiser von jenen, die er kritisiert – und die ihn gerne totschweigen würden, das skandalöse Betragen der Theodor Kramer-Gesellschaft ist Ihnen wahrscheinlich bekannt. Zum Beispiel wird Edgar Morin so von ihm genauer gelesen: als traurige Causa und Blamage derer, die ihn auch für dessen Spätwerk feiern.

Edgar Morin ist ein verdienter Soziologe, verdient ist er auch als Kämpfer der Résistance. Und er hat, als er über 100 Jahre alt war, ein Buch zum Krieg geschrieben, leider.

„Ein unentschuldbares Kriegsverbrechen großen Ausmaßes will Morin in den alliierten Flächenbombardements 1944/45 deutscher Gebiete und Städte sehen. Sie zielten aber darauf ab, den deutschen Willen, den strategisch schon verlorenen Krieg weiterzuführen, zu brechen. Es spricht für die Einfalt dessen, was da unter dem Titel Complexité an Mann und Frau gebracht werden soll, wenn unerwähnt bleibt, dass im selben Zeitraum von deutscher Seite die ungeheuerlichsten Verbrechen des organisierten Massenmords in den Gaskammern begangen wurden. Angesichts dessen waren die Flächenbombardements die militärisch zu diesem Zeitpunkt mögliche, durchführbare Antwort. Dass die Deutschen die Fähigkeit verloren hatten, zwischen dem Leid, das ihnen widerfuhr, und dem Leid, das sie anderen zufügten, einen Zusammenhang herzustellen, macht aus den Bombardements eo ipso kein Verbrechen, sondern wirft bloß die Frage auf, ob es nicht vielleicht auch andere Mittel gegeben hätte, die Deutschen vom Massenmorden abzubringen.“

Dies schreibt Konstantin Kaiser gegen einen eindimensional-desinteressierten Pazifismus, der, um zu überzeugen, auch noch die Opfer Dresdens mehr als verzehnfacht – auf 300.000, was man sonst nur bei rechtsextremen Autoren so findet. Das sind die Details, wofür man also gar nicht so sehr ins Detail gehen müsste, Zehnerpotenzen: Fahrlässigkeit des alten Morin und derer, die das – womöglich gerne – übersahen.

Morin hat eine Agenda: Krieg als auch im Verteidigungsfall vermeidbar, als bloße Folge Kriegstreiberei auf allen Seiten, darzustellen. Dazu braucht er diese Unwahrheiten, er lügt aus vermeintlich moralischen Gründen. Es ist ein Pazifismus, dem zu folgen das zu begrüßen hieße, was etwa bezüglich der Konzentrationslager geschah oder genauer nicht geschah. Diese Art von billigem Pazifismus war und ist eher als Kollaboration mit Mördern zu beschreiben. Morin vertritt das, Werner Wintersteiner übersetzt das und vertritt das ebenso.

Konstantin Kaiser aber, und das ist eine von vielen Qualitäten, verwahrt sich dagegen und zeigt auf, wie widerlich diese wohlfeilen Haltungen sind. Diese Genauigkeit, die unaufdringlich-authentisch tatsächlich eine Menschlichkeit advoziert, zeichnet auch seine Gedichte wie gesagt aus.

Sie nehmen sich Zeit: auch für die Zeit. Die ist sonst heute „ein stählerner Block“, „die angehäufte vergangene Arbeit“, so Kaiser, ist etwas für Bilanzen, worin nichts aufscheint, das etwas ist oder gar bedeutet. Stattdessen brauche es „eine ausgedehnte Gegenwart“, eine, worin auch noch Raum für Räume ist. Raum nicht als Zugriffszeit, sondern als Insel oder Oase: „Kleine rumänische Tankstelle“, das ist so eine Raum-Zeit-Insel, keine idyllische, auch keine, die einfach nur unordentlich ist, auch hier gibt es „zuständige“ Organe. Inseln sind aber fast nie dort, wo man sie sucht, sondern dort, wo man sie wahrnimmt, obwohl man sie woanders vermutet hätte, vielleicht: auf dem falschen Weg oder Dampfer:

„Da drüben, nach der schwarzen Menschenschlucht, empfängt dich eine Insel, ist ein Lächeln“, heißt es in einem Gedicht, das um die Angst kreist. Neben der Angst die Trauer: Angst, die sich realisierte.

„Zu früh verstorben, Freund, der mir geholfen hat“, so beginnt die Erinnerung an Willy Verlauf-Verlon, den vor nun schon fast 30 Jahren Verstorbenen, von dem das lyrische Ich immer noch „zu lernen“ gedenke. Was das meint, ahnt man, wenn man sich dessen Bilder ansieht, in manchem den Photomontagen Heartfields verwandt, er selbst Erfinder des Montage-Painting, einer Kombination aus Ölmalerei und Collage. Dieses Politische, das sich aus einer Art des Formgebens wie von selbst einstellt, Genauigkeit bei der Form als Genauigkeit bei den Inhalten, könnte man umfänglich mit Benjamin oder sonstwie ausführen, aber ich will mich kurzfassen, weil Sie wie ich auf den Dichter selbst warten.

So bleiben Menschen als die Energie ihres Tuns fasslich:

 „Damals war niemand tot, wer je
gesprochen hatte, lebte weiter“,

so heißt es hier vom Schreiben und Lesen. Hölderlin und Benn. Kommt, reden wir zusammen/ wer redet, ist nicht tot, ist bei Benn zu lesen. „Auch Rilke, Trakl kamen zu Besuch“. Damals – das ist eine Zeit, die ausgedehnte Gegenwart kannte, davon und von Krankheit und politischen Morden wissen diese Texte gleichermaßen.

Zeit meint auch die Umwege, die man, wenn man historisch denkt, macht oder als zu machende andeutet: Diese Gedichte weisen immer wieder auf Vorkommnisse und Zusammenhänge hin, die auszuführen bleiben, von denen, die sie lesen, „Gedichte erbitten den Umweg über die Lektüre anderer Texte“, schreibt in diesem Sinne Roland Reuß (nicht nur) zu Celan: „Sie setzen die Institution Bibliothek voraus“.

Man wisse also. Das macht einem fast schon zum Querulanten, indem man liest, von Schikanen gegen Menschen, die, wiewohl oder weil unschuldig, Querulanten genannt wurden, also nicht selbsternannte Querdenker gewesen sind, die stromlinienförmig demjenigen folgen, den sie für den nächsten Führer halten, samt Reiterstaffel und Pferdewurmkur. Querulanten sind vielmehr Menschen, die denken und Haltung wahren, auch indem das nicht so einfach ist, was sie denken oder für richtig halten.

„Öffentliche Ruhestörung
blieb in den Folgejahren sein Lebensraum.
Eine schmale Zone.“

Das sind auch wieder Werke. Der poetische Akt muss nicht in einem Gedichtband stehen, er kann auch dies sein – oder ein Name, der dann evoziert, was passiert oder passierte. Anahita etwa. Ich weiß nicht, ob Konstantin Kaiser an die Galeristin dachte, der wir den Band Breathing Space: Iranian Women Photographers des letzten Jahres verdanken, Anahita Ghabaian Etehadieh, er bezieht sich explizit auf die altpersische „Göttin des alles Leben hervorbringenden Wassers“. Nahid Bagheri-Goldschmied ist eine weitere persische Stimme, die Texte dieser Kultur im Deutschen auch mit dem, der sie sich in diesem Band vergegenwärtigt, vernehmlich machte, der zweisprachige Band Die Liebe kennt alle Sprachen der Welt. Persische Lyrik der Gegenwart, erschien im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2016.

Siglinde Bolbecher ist ein schönes Gedicht gewidmet, wieder eine Lebensmöglichkeit in allem Gram, in allem „bleiernen Schlaf“ ringsum. „Mit ihr untergegangen“ ist vieles, fast alles, kann man meinen, ein weiteres Gedicht für sie und an sie, wobei das Fast, dass also doch etwas blieb und bleibt, die Worte – deren Bewegung, der Rhythmus – sind… „Gern hätte sie weitergetanzt“, man müsste weitertanzen wollen und „weiterdenken“ können und wollen sowieso, noch mehr an Impressionen zu ihr.

Es gibt, als Werke vor seinem Werk (und in seinem Werk), auch das Erlebte und Getane des Vaters, in Form der Erinnerungen an den Vater. Einer, der als „unverbesserlicher Aufrührer“ mit seinem Sohn etwas gemein haben könnte, mit Rückschlägen, jeder auch einmal „geduckt“, das ist das Menschliche, das man sich selbst nicht so leicht verzeiht. Aber es geht weiter, auch hier. „Öffentliche Ruhestörung“ beschert einem als „Lebensraum“ eine „schmale Zone.“ Angst, so zu enden, oder: überhaupt zu enden, beschert einem diese Verengung erst recht.

„Je mehr Gegenwart du dir schaffst
desto mehr kann dir geschehen.
Vielleicht ist es besser,
sich bloß auf einem schmalen Streifen Gegenwart
zu bewegen und all die Gefahren
wären entweder schon vergangen
oder kämen erst auf uns zu.“
„Einander finden können wir uns dann nicht mehr.“

Mit diesen Gedichten und ihrer – Konstantin Kaisers – Offenheit aus Genauigkeit, Genauigkeit aus Liebe und Liebe aus Offenheit können wir dies aber schon. Ich hoffe, dass auch Ihnen diese Lyrik viel Freude bereitet.

Prof. Dr. Martin A. Hainz, Philosoph, Komparatist, Germanist, lehrte und lehrt u.a. in Wien, Berlin, Trondheim und publizierte u.a. über Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weissglas…